Der Geomorphologe und sein Repertoire an Naturgefahren
Christoph Graf
Der Geomorphologe, Christoph Graf, arbeitet bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. Am Telefon sprach er mit mir über seine Arbeit, schwarze Schwäne und die Musik.
Interview: Roland Kämpf
Christoph Graf (51) ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in Aarwangen.
Nach dem Gymnasium studierte er Geografie und ist seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei WSL.
Sie arbeiten als Geomorphologe bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. Was sind Ihre Aufgaben?
Ich untersuche und überwache die Entwicklung der Prozesse von Naturgefahren im Alpenraum und deren Auswirkungen auf die Umwelt und den Menschen. Konkret geht es dabei um Prozesse wie Gletscherschmelze, Hochwasser, Rutschungen und Steinschlag, im Speziellen um Murgänge. Weiter unterstütze ich externe Institutionen, Behörden und Private bei Risikoabschätzungen. Im Wesentlichen geht es dabei ums Beobachten und Verstehen sowie das Vermitteln dieser Erkenntnisse. Das bedeutet, ich sammle Fakten die durch Experimente, Messungen und Beobachtungen gewonnen werden. Mit den gewonnenen Erkenntnissen entwickeln wir anschliessend mathematische Modelle, um künftige Prognosen – beispielsweise Murgänge – vorherzusagen. Für kritische Fälle werden häufig physische Modelle im verkleinerten Massstab gebaut, um Situationen zu simulieren und damit verlässliche Resultate zu erhalten.
Sie haben physische Geografie studiert, was ist das genau?
Bei der physischen Geografie werden die Strukturen und Dynamiken der physischen Umwelt untersucht. Zu diesen Merkmalen, auch naturräumliche Faktoren genannt, zählen Relief, Klima, Gewässer und Vegetation. Letztlich geht es dabei immer um die Frage: Wie wirkt die Natur auf den Menschen?
Wieso gerade Geografie?
Nach dem Gymnasium wollte ich die Naturwissenschaft in einem integralen Kontext kennen lernen. Da habe ich mich für die Geografie entschieden. Ich bin überzeugt, dass eine ganzheitliche Betrachtung - neben dem Spezialwissen - von grosser Bedeutung ist.
Ein Teil Ihrer Arbeit hat mit Risikoabschätzung zu tun. Was müssen wir uns darunter vorstellen?
Die vereinfachte Formel dazu lautet: Risiko = Gefahr x Exposition x Verletzlichkeit.
Bei wachsender Bevölkerung braucht es mehr Infrastrukturbauten – Schulen, Strassen, Brücken, Bahngeleise, Wohnungen. Das hat zur Folge, dass sich die Menschen und die Natur immer näherkommen und damit die gegenseitige Verletzlichkeit stark zunimmt. Hierzu muss ein aktiver und ergebnisoffener Dialog zwischen allen Beteiligten geführt werden.
Für eine Risikoabschätzung gibt es mehrere Auslöser. Hat es bereits ein Ereignis mit Schäden an Infrastruktur und Personen gegeben, versucht man aus dem Ereignis zu lernen und Gegenmassnahmen zu ergreifen wie Frühwarnsysteme, Schutzdämme. Beim Aufbau neuer Infrastruktur in einer Gefährdungszone werden bekannte Gefahren und mögliche Gefahren abgewogen und in die Planung mit einbezogen. Aus all diesen Abschätzungen können auch unangenehme Massnahmen resultieren, wie das Umsiedeln von bestehendem Wohnraum.
Worin liegt die Gefahr einer Fehleinschätzung?
Wir haben heute riesige Datenmengen zur Verfügung. Mit zivilen Satelliten können wir weltweit Bewegungen, Nutzung, Nässe, Trockenheit und vieles mehr erfassen. Trotz dieser Datenflut stossen wir an Grenzen. Das Problem ist, dass diese grosse Datenmenge nicht nur von Menschenhand ausgewertet werden kann. Dazu benötigen wir entsprechende Programme und zunehmend auch künstliche Intelligenz.
Der Bestsellerautor Nassim Nicholas Taleb beschreibt in seinem Buch «Der Schwarze Schwan»die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Sind Sie auch schon einem schwarzen Schwan begegnet?
Ich habe das Buch von Nassim Nicholas Taleb zwar nicht gelesen, aber schon einiges darüber gehört. Was darin beschrieben wird und eigentlich auf den Satiriker Juvenal zurück geht, hat grossen Bezug zu meiner Arbeit. Wir denken zwar immer auch das Unvorstellbare, wenn wir zukünftige Szenarien entwickeln. Die sogenannten Schwarzen Schwäne lassen wir aber in der Regel beiseite, denn sie entsprechen meistens den «Meteoriten-Szenarien» an deren massiven Folgen wir lieber gar nicht denken wollen. Fachlich ordnen wir diese den Überlastszenarien zu, also möglichen Ereignissen, die Schutzsysteme, meist bauliche Massnahmen, komplett überlasten. Unser Anspruch ist, dass die Massnahme in diesem Überlastfall die Sache nicht noch verschlimmert. Bildlich kann man sich einen Damm mit begrenzter Kapazität vorstellen, der ein gewisses Fassungsvermögen aufweist und so Schutz bietet. Ist er voll oder kommt noch mehr Wasser hinzu, dann sollte er nicht brechen, damit nicht noch eine grössere Katastrophe eintritt.
Der grosse, erste Murgang (meist als Schuttstorm bezeichnet) in der Bondasca, der sich unmittelbar nach einem grossen Felssturz aus dessen Ablagerungsmasse gelöst hat und Teile von Bondo stark beeinträchtigt hat, entspricht einem solchen Schwarzen Schwan. Hier haben sehr viele verschiedene Prozesse sehr ungünstig zusammengewirkt und waren so nicht vorhersehbar.
Wie wird sich der Klimawandel auf die gegenseitige Verletzlichkeit zwischen Natur und Menschheit auswirken?
Sehr pointiert sage ich jeweils, «wer nicht hören will, muss fühlen». Die Personen aus der Wissenschaft sprechen das Thema seit Jahrzehnten an und doch reagiert die Gesellschaft nur verhalten. Die Verletzlichkeit der Gesellschaft nimmt eher zu als ab, auch wenn wir uns anpassen. Angestrebt wird ein Sicherheitsniveau, das ökologisch vertretbar, ökonomisch verhältnismässig und sozial verträglich ist. Das tönt alles gut, doch geht es bereits davon aus, dass sich unsere Umwelt massiv (sehr rasch und langanhaltend) verändert. Man kann sich ausrechnen, dass es dabei zu Verlierern kommt, es Schäden und auch Opfer geben wird. Die Natur und nicht die Menschheit (als kleiner, aber prägender Teil der Natur) wird gewinnen. Die Auswirkungen sind global sehr unterschiedlich verteilt, was zu Konflikten um Ressourcen wie Wasser und Nahrung und nie dagewesenen Bevölkerungswanderungen führen wird. Umso wichtiger ist die Entwicklung einer vernünftigen Risikokultur innerhalb unserer Gesellschaft.
Sie sind auch ein passionierter Schlagzeuger, warum gerade dieses Instrument?
Schlagzeug hat mich fasziniert, weil es laut ist und weil mich Rhythmik angesprochen hat. Als zehnjähriger Junge, fand ich dieses Instrument viel spannender als beispielsweise die Flöte.
Gibt es Parallelen zwischen Ihrem Beruf und der Musik?
Es gibt Parallelen und Ergänzungen. Die Parallelen liegen etwa beim Üben und Weiterbilden. Das begleitet mich im beruflichen Umfeld wie auch bei der Musik und ist ein Dauerprozess. Eine Ergänzung sind beispielsweise Fragen nach den physikalischen Eigenschaften von Schwingungen. Diese analysiere ich sowohl bei Messdaten zu Murgängen wie auch beim Erzeugen eines Schlages auf die Snare Drum.