Eine inspirierende Bahnreise - ein Ausflug in die Arbeitswelt von New Work
von Roland Kämpf, Augus 2023
«Kann ich Ihnen helfen?» ruft jemand hinter mir.
Ich schaue mich um und sehe einen jungen Mann mit einer Umhängetasche, der es sichtlich eilig hat. «Ich fahre einmal im Jahr Zug und bin mit diesem Billettautomaten überfordert», sage ich zu ihm. «Warten Sie, ich helfe Ihnen.» Der junge Mann scheint regelmässig mit dem Zug unterwegs zu sein und druckt mir im Handumdrehen einen Fahrschein aus. Nun muss ich nur noch den richtigen Bahnsteig finden und die Reise kann losgehen. Auf einer riesigen Anzeigetafel finde ich rasch die nötige Information. In der Bahnhofshalle ist es wie auf der Autobahn. Die Menschen laufen in zwei getrennten Richtungen – wehe demjenigen der in der falschen Kolonne marschiert. Mein Zug steht bereit zum Einsteigen. Ich muss noch einige Schritte gehen, denn die Wagen der 1. Klasse befinden sich etwas weiter vorne. Im Wagenabteil wähle ich einen Sitzplatz am Fenster in Fahrtrichtung. Eigentlich fahre ich viel lieber Auto. Da ich aber nach Zürich muss, verspüre ich keine Lust im Stau auf der A1 die Start-Stopp- Automatik meines Wagens zu strapazieren. Noch bevor der Zug losfährt, hole ich mein IPad hervor und öffne mein E-Mail-Postfach. Allmählich füllen sich die Plätze und die meisten Reisenden nehmen ebenfalls ihre digitalen Reisebegleiter hervor. Einige nippen genüsslich an ihrem Coffee-to-go. Wie gerne hätte ich auch so einen Kaffee – auf der Rückfahrt werde ich mir auch einen gönnen. Ein älterer Herr setzt sich mir gegenüber und zieht seine Sportjacke aus.
Der Zug fährt los – ich beschäftige mich wieder mit meinem elektronischen Postfach. Unterbrochen werde ich durch eine laute Stimme: «Fahrscheine bitte.»
Bevor ich mich wieder meinem Spielzeug zuwende, beobachte ich die Leute und mir fällt auf, dass mein Sitznachbar der Einzige ist, der nicht in ein digitales Gerät hineinstarrt. Plötzlich spüre ich das Bedürfnis nach Smalltalk und obwohl ich überhaupt nicht der Typ dafür bin, spreche ich den Fremden an: «Sie müssen ein glücklicher Mensch sein.» «Weshalb denken Sie das?», fragt er erstaunt. «Weil Sie der Einzige sind, der nicht an einem digitalen Gerät herumhantiert», antworte ich scherzhaft. «Das täuscht, ich besitze alle diese Geräte und nutze sie täglich mehr als mir lieb ist. Ich versuche mir gerade anzugewöhnen, beim Reisen im Zug auf diese Ablenkung zu verzichten. Ich beobachte viel lieber die Umgebung und die Mitreisenden und lasse meinen Gedanken freien Lauf.» «Was machen Sie beruflich?», frage ich weiter. «Ich habe über 20 Jahre im Management gearbeitet und habe meinen letzten Job an den Nagel gehängt und bin jetzt selbständiger Unternehmensberater.» «Was machen Sie beruflich?» Er blickt mich an und überreicht mir seine Visitenkarte.
«Ich bin Leiter der Abteilungen Produktentwicklung und Projektmanagement. Ich bin unterwegs nach Zürich zu einem Meeting unserer Tochterfirma.» «Darf ich fragen um
was es bei diesem Meeting geht?», fragt mich Herr Meier. «Es geht darum, wie wir künftig besser auf die neuen Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen wollen. Beim zunehmenden Fachkräftemangel muss man als Arbeitgeber möglichst attraktiv sein, um die vorhandenen Fachkräfte anziehen zu können. Da wird es unter anderem um Themen wie New Work gehen.» «Was verstehen Sie unter New Work?», will er wissen. «Ich weiss eigentlich nur das, was ich im Internet auf die Schnelle nachgeschaut habe. Da fand ich Ausdrücke wie agiles Arbeiten, flexible Arbeitsmodelle und hybrides Arbeiten.»
«Möchten Sie gerne mehr zu diesem Thema wissen?», fragt mich Herr Meier. «Ja gerne, dieses Thema interessiert mich», antworte ich erwartungsvoll. «Bereits Mitte der 1970er-Jahre entwarf der Sozialphilosoph Frithjof Bergmann ein Konzept über die neue Arbeit, New Work. Dabei geht es um Werte wie Selbstbestimmung und Freiheit. Es geht um die Frage, womit wollen wir wirklich Zeit verbringen? Wissen wir eigentlich, was wir wirklich wollen? Die Arbeit soll den Menschen nicht Kraft rauben und sie erschöpfen, die Arbeit soll Spass machen und sie bei ihrer persönlichen Entwicklung unterstützen.» «Was heisst Spass machen?», hake ich nach. «Es geht nicht nur um einen Job, sondern um eine neue Lebensgestaltung. Es geht darum, dass wir einer Arbeit nachgehen, die wir wirklich wollen. Die uns erfüllt und Freude bereitet.» «Was ist denn an der alten Arbeit so schlecht?», will ich wissen. «Bergmann bezeichnet diese Art der Arbeit als milde Krankheit, da nur wenige Menschen ihre Arbeit wirklich mögen und sie ein Leben lang erdulden müssen. Er will, dass Menschen den ganzen Stress, die Burnout-Syndrome und die Belastungen durch ihre Arbeit hinter sich lassen. Die Auseinandersetzung mit der Neuen Arbeit, bewirkt ein Umdenken.»
«Aber würden nicht viele Menschen den Zustand ohne Arbeit, als noch schlimmer empfinden?», frage ich. «Ja, das ist ein guter Einwand. Bergmann bezeichnet sein Konzept selbst als Utopie und hat nicht den Anspruch auf alle Fragen eine befriedigende Antwort zu haben. Ursprünglich beruht sein Konzept auf der Selbstversorgung, auf Arbeit, die man aus freien Stücken tut. Man entschliesst sich, sein Leben und seine materiellen Ansprüche zu überdenken und auf Überflüssiges zu verzichten und das, was man für ein gutes Leben braucht, selbst – oder zusammen mit anderen Menschen – herzustellen.» «Dies klingt aber ziemlich romantisch», entgegne ich. Herr Meier nickt zustimmend. «Wie gesagt, dies ist die Utopie von einer Gesellschaft, in der Arbeit den Menschen nicht mehr belastet, sondern ihm Freude bereitet. Eine Art zu arbeiten, die Kreativität und Produktivität wieder freisetzt. Die Menschen sollen die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln und das, was in ihnen steckt, herauszuholen.»
«Wie kann ich dies in die heutige Zeit adaptieren?», frage ich etwas verunsichert. «Es geht darum, bestehende Regeln und Glaubenssätze zu überdenken und mehr auf die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeitenden einzugehen. Spätestens seit der Pandemie haben wir beispielsweise gelernt, dass Homeoffice eine vernünftige und ressourcenschonende Alternative ist. In dieser Zeit mussten einige Chefs umdenken. Gerade Chefs, die gerne jedes Detail kontrollieren, mussten loslassen und ihren Mitarbeitenden mehr Vertrauen entgegenbringen.» «Wie muss ich mir agiles Arbeiten im Zusammenhang mit New Work vorstellen?», frage ich ungeduldig. «Unter Agilität versteht man die Wandlungsfähigkeit von Firmen. Agile Firmen können schneller und flexibler auf Marktveränderungen und Umweltfaktoren reagieren. Es geht darum die Organisationstruktur möglichst flexibel zu halten und Teams, den jeweiligen Marktanforderungen angepasst, aufzustellen. Damit werden die Verantwortung und der damit verbundene Druck, breiter abgestützt.» «Funktioniert das?» «Wenn wir beispielsweise auf den modernen Radsport blicken, wird dies bereits erfolgreich angewendet. Da werden Teams mit Fahrern unterschiedlichster Stärken gebildet. Je nach Rennen wird das Team zusammengestellt und ein Kapitän bestimmt für den die übrigen Fahrer ihre Helfer-Dienste leisten. Für einen Tagesklassiker wie Paris-Roubaix kann der Kapitän jemand anderes sein als bei einer mehrwöchigen Rundfahrt wie der Tour de France. Ähnliches finden wir beim Fussball. Die Teams bestehen in der Regel aus 23 bis 25 Spielern. Der Trainer stellt – je nach Gegner – jeweils ein Team mit elf Spielern auf, welches einmal eher offensiv und beim nächsten Spiel eher defensiv ausgerichtet ist. Es spielen nicht immer die gleichen elf Spieler. Da in einem Team die meisten Positionen mehrfach besetzt sind, wird damit die Belastung der einzelnen Spielern gesteuert. In unserem Beispiel wäre dies ein mögliches Mittel zur Steuerung einer besseren Work-Life-Balance.» «Das ist schon etwas abstrakt», entgegne ich. «Es geht nicht darum, diese Beispiele eins zu eins zu kopieren. Dies sind lediglich Denkanstösse aus anderen Bereichen. Wie verändert beispielsweise die Digitalisierung unsere Arbeit? Und vor allem – wie reagieren wir darauf? Letztlich müssen wir neue Lösungen in der Zusammenarbeit finden, die den aktuellen Umständen – Fachkräftemangel und veränderten Bedürfnissen der kommenden Generationen – gerecht werden.»
«Müssen wir künftig weniger arbeiten?», will ich wissen. «Darauf gibt es keine einfache Antwort. In der Praxis wird das Konzept von Frithjof Bergmann oft abweichend angewendet. Bergmann ging davon aus, dass die Menschen im New Work weniger arbeiten würden und mehr Zeit für anderes hätten. Tatsächlich verbinden aber viele Menschen New Work mit ständiger Erreichbarkeit und entsprechend mehr statt weniger Arbeit. Es wird schwierig sein, grosse etablierte Firmen völlig umzukrempeln. Da geht es um Veränderungen in kleinen Schritten. Die besten Voraussetzungen für grössere Wandlungen haben Startups. Sie eignen sich besonders gut für Experimente. Von deren Erfahrungen können dann andere Firmen profitieren.»
Die angeregte Unterhaltung wird mit der Durchsage: «Nächster Halt, Zürich Hauptbahnhof» unterbrochen. Die knappen zehn Minuten die mir noch bleiben bis zum Aussteigen nutze ich, um Herrn Meier zu fragen, ob ich ihn anrufen darf, falls ich noch Fragen habe. Er nickt freundlich und sagt: «Sie haben ja meine Karte. Leider reichte die Zeit nicht aus, um das Thema New Work in aller Tiefe zu besprechen. Ich hoffe Sie können trotzdem etwas mitnehmen.» «Herr Meier, ich bedanke mich für das interessante Gespräch und für den Einblick in das Thema New Work. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.» «Danke gleichfalls, ich wünsche ihnen ein erfolgreiches Meeting.» Herr Meier steht auf und zieht seine Jacke an.
Auf dem Bahnsteig denke ich noch einmal über das Gespräch nach und frage mich, was ich dabei gelernt habe. Es geht nicht darum, alle diese verschiedenen Methoden im Detail zu kennen, sondern sich von diesen Konzepten Inspirieren zu lassen und offen für neue Arten der Zusammenarbeit zu sein. Wie immer die neue Art der Zusammenarbeit auch aussehen mag, sie ist nur Mittel zum Zweck. Der Zweck einer Firma bleibt das Geldverdienen. Dies darf bei all diesen Gedankenspielen nicht ausser Acht gelassen werden.
Infobox
1930 – 2021
Österreichisch-US-amerikanischer
Sozialphilosoph und Anthropologe
und Begründer der «New Work»- Bewegung.