Neugierig über den Wolken

von Roland Kämpf, Februar 2023

Am Gate A43 setzt sich Tomas Weiss auf einen freien Stuhl. Kurze Zeit später spürt er einen dicken Kloss im Hals. Es fühlt sich an, als schnüre ihm jemand die Kehle zu. Er möchte wegrennen und überlegt sich fieberhaft eine Begründung für seinen Chef, warum er nicht geflogen war. Die Ansage mit der Bitte zum Einsteigen unterbricht seine Grübeleien. Schweren Schrittes folgt Tomas Weiss den anderen Passagieren. Er ist sich schon jetzt sicher, dass er nach dieser Reise nie wieder in ein Flugzeug steigen will.


Er hofft, dass der Sitz, den er gebucht hat, wirklich am Gang liegt. Sitz 68A ist ziemlich weit hinten. Es kommt ihm vor, als ob diese Flugzeugröhre hinten immer enger wird. Als er die Sitzreiche 68 endlich erreicht, ist die Erleichterung gross, dass er tatsächlich am Gang sitzt. Er verstaut das Handgepäck, setzt sich hin und hofft, dass der leere Fensterplatz frei bleibt. Die Zeit vor dem Takeoff ist für ihn kaum zu ertragen. Plötzlich bleibt ein Mann neben ihm stehen und zeigt mit seinem Ticket auf den Fensterplatz. Herr Weiss steht auf und macht den Weg frei. Damit bleibt die Hoffnung auf den freibleibenden Sitz unerfüllt.


Auf dem Weg zur Startbahn meldet sich der Kapitän mit dem Hinweis, dass sie die Nummer 2 sind und es in etwa 5 Minuten losgeht. Vor dem Einbiegen auf die Startbahn gibt es noch einen Bremscheck und dann beschleunigt der Pilot die Maschine und das Flugzeug schiesst über die Startbahn. Beim Abheben reisst Tomas Weiss vor lauter Anspannung fast die Armlehne weg. Das Hemd ist durchgeschwitzt und sein Rücken klebt am Sitz wie eine Briefmarke auf der Postkarte.

Auf 10'000 Metern Flughöhe erlischt das Anschnallzeichen und Herr Weiss kann sich endlich etwas entspannen. Er bleibt jedoch angeschnallt. Nun hat er erstmals Zeit, den Sitznachbarn zu mustern. Er ist etwa um die 60, wirkt entspannt und scheint den Flug zu geniessen. Warum kann er eigentlich nicht so entspannt sein? Minuten später meldet sich der Mann am Fenster mit der Frage:  «Sind Sie geschäftlich unterwegs?» 

«Ja, ich besuche eine Fachmesse für Fahrzeugbau», antwortet Herr Weiss. Sein Sitznachbar stellt sich als Rolf Müller vor und fragt interessiert: «Was genau hoffen Sie, an dieser Messe zu finden?» 
Thomas Weiss ist froh über das Gespräch und erklärt Rolf Müller, dass er Leiter einer Entwicklungsabteilung sei und seit Wochen von seinem Chef gedrängt wird, endlich wieder ein erfolgreiches Produkt zu entwickeln. Er verstehe das Anliegen und er haben dies bereits mehrmals mit seinem Entwicklungsteam diskutiert. 

«Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet: Was genau erhoffen Sie sich von dieser Messe, Herr Weiss?» 

«Ich will die Konkurrenzprodukte genau unter die Lupe nehmen und möglichst viele Gespräche führen», antwortet Tomas Weiss mit einem fragenden Blick in Richtung Rolf Müller. 

«Sind Sie sicher, dass Ihnen dies bei Ihrem Problem weiterhilft? Kennen Sie Ihre Wettbewerber und deren Produkte nicht schon zur Genüge?» 

«Ja, Sie haben recht. Eigentlich kenne ich diese Produkte in- und auswendig.»

Ist das Team noch neugierig genug?

«Herr Weiss, haben Sie sich schon einmal gefragt, ob Sie und Ihr Team noch neugierig genug sind?» Sichtlich überrascht über diese Frage sucht Herr Weiss leicht gequält nach einer Antwort. Um Zeit zu gewinnen fragt er nach: «Wie meinen Sie das?»
«Ich nehme an, dass Sie und Ihr Team schon sehr lange im Geschäft sind und den Markt und die Produkte sehr gut kennen. Diese grosse Erfahrung ist begrüssenswert, birgt jedoch gleichzeitig die Gefahr, dass man nicht mehr neugierig genug ist. Ohne Neugierde fehlt es an Kreativität und dies führt zum Stillstand in der Entwicklung. Neugierde ist wie eine Erneuerungsfunktion in unserem Kopf.»
«Und was bedeutet dies nun für mich und mein Team?»
«Es geht um die Gier nach Neuem und die damit verbundenen Erfahrungen.»
«Das ist mir alles etwas zu schwammig», entgegnet Herr Weiss. 
«Gerne gebe ich Ihnen ein Beispiel: Sie besuchen heute die Fachmesse, wo Sie möglicherweise nicht viel anderes sehen werden als die Produkte, die Sie bereits bestens kennen. Wenn Sie Glück haben, finden Sie die eine oder andere Änderung, aber ansonsten begegnen Sie sehr viel Bekanntem. Auch die Kontakte und die damit verbundenen Gespräche bringen häufig keine neuen Erkenntnisse. Das heisst nicht, dass diese Gespräche nicht nötig sind, aber unter Mittbewerbern herrscht nur selten ein offener und ehrlicher Austausch. Demzufolge werden Sie morgen wahrscheinlich mit wenig Nutzbarem zurück nachhause fliegen.»
«Und was raten Sie mir nun konkret, Herr Müller?»

«Besuchen Sie oder ein Mitglied Ihres Teams doch eine Fachmesse für Produkte, die mit Ihrer Branche überhaupt nichts zu tun haben, beispielsweise eine Fachmesse für Werkzeugmaschinen.»
Thomas Weiss reisst die Augen auf und runzelt die Stirn. «Es geht bei einer solchen Erfahrung nicht um technische Ideen für Ihre Produkte, sondern darum, dass Sie andere Wege und einen neuen Zugang für Ideen und Entwicklungen finden. Gehen Sie auf das Standpersonal zu und versuchen Sie herauszufinden, wo bei ihnen der Schuh drückt und wie sie damit umgehen. Fragen Sie nach deren Alleinstellungsmerkmalen und wie diese entstanden sind. Stellen Sie Fragen, die Sie bei Ihren Marktbegleitern sonst nicht stellen. Da Sie sich Ihrem Gesprächspartner vorgestellt haben und er weiss, dass Sie nicht vom Fach sind, wird er Ihnen sehr viel mehr erzählen als dem Fachpublikum. Wenn Sie neugierig genug sind, werden Sie nach einem solchen Besuch sehr viel inspirierter nach Hause zurückkehren als nach einer Fachmesse. Solche Erlebnisse werden Ihnen nicht sofort Ergebnisse liefern. Sie sorgen dafür, dass Sie offen bleiben und die neuen Erfahrungen werden sich allmählich positiv auf Ihre Entwicklungs-Performance auswirken.»
«Wow, das muss ich zuerst etwas sacken lassen. So habe ich das noch nie betrachtet», meint Herr Weiss und nimmt einen Schluck Kaffee. «Haben Sie noch weitere Ratschläge auf Lager?»
«Es geht grundsätzlich darum, die Gier nach neuen Erfahrungen zu aktivieren. Gehen Sie neue Wege. Sich immer und immer im gleichen Saft zu wälzen bringt keine neuen Erkenntnisse. Bleiben Sie auch im Privaten neugierig. Jedes Jahr am selben Ort die Ferien zu verbringen, stumpft die Neugierde ab. Es sei denn, Sie erkunden jedes Mal neue Wege und versuchen, die Umgebung neu zu erleben. Insgesamt gibt es sehr viele Möglichkeiten, seine Neugierde zu befriedigen.»

«Hier spricht der Kapitän, wir beginnen nun mit dem Landeanflug.» Diese Durchsage unterbricht das Gespräch und erinnert Tomas Weiss daran, dass er in einem Flugzeug sitzt und weckt seine Flugangst. Das Personal und die Passagiere bereiten sich auf die bevorstehende Landung vor.

«Herr Weiss, ich geben Ihnen noch einen Ratschlag für die Landung: Konzentrieren Sie sich auf den Fusskontakt mit dem Boden. Atmen Sie tief in die Beckengegend ein und atmen Sie langsam über die Fusssohlen wieder aus.»